In meiner Reihe “…im Gespräch” kommt heute der nächste Weinkritiker und Journalist zu Wort, Mario Scheuermann. Er gilt als Pionier in Sachen “Wein im web”. Mario Scheuermann ist seit 2002 unter Anderem Betreiber des Weinforums “talk-about-wine“, das mit knapp 3.000 Mitgliedern eines der größten und ältesten Internetforen zum Thema Wein darstellt. Scheuermann bloggt seit vielen Jahren beispielsweise auf seinem “drinktank” und dem “planet bordeaux“. Er gilt als profunder Kenner der internationalen Weinszene, ist Autor zahlreicher Bücher und Veranstalter des Hamburger Weinsalons. Mario Scheuermann steht aber auch oft aktiv im Mittelpunkt kontroverser Diskussionen, insbesondere dann, wenn es um das beliebte Thema “Profis vs. Amateure” geht.
Würtz-Wein: Sie gehören quasi zu den Mitbegründern des deutschen Weinjournalismus. Seit einigen Jahren betreiben Sie mehrere blogs, das Weinforum „talk-about-wine“ und sind auch ein sehr aktiver Twitterer. Was ist der Grund für diese starke web 2.0 Ausrichtung?
Mario Scheuermann: Kurz gesagt: meine angeborene und beruflich dann weiterentwickelte Neugier auf alles Neue. Länger erklärt: Ich habe in meiner jetzt über 40jährigen beruflichen Laufbahn die Entwicklung des deutschen Weinjournalismus, wie wir ihn heute kennen, miterlebt und an einigen Stellen auch aktiv mitgestaltet z.B. durch die frühe Forderung nach einer Klassifizierung für deutsche Weine, den ersten unabhängigen Weinführer oder die Übernahme des 20-Punkte-Systems von GM Anfang der 1980er Jahre für Wein und die Gründung des Comitées Erstes Gewächs etc.. Vorher Als ich anfing, gab es eigentlich so gut wie keine Weinjournalisten. Es gab Verbandsblätter, in denen Fachartikel erschienen, und es gab Weinautoren, die haben aber meist Bücher geschrieben und eher selten in Tages- oder Wochenmedien publiziert. Gelegentlich erschien auch mal in einem Nachrichtenmagazin wie Der Spiegel ein Weinartikel. Dafür gab es aber nur drei Gründe: Politik, Wirtschaft oder ein Panschskandal. Weinnotizen wie sie heute überall publiziert werden erschienen so gut wie nie. Zeitschriften wie Feinschmecker, Alles über Wein, Gault Millau etc. gab es damals noch nicht. So wundert es mich auch nicht, wenn diese nach und nach auch wieder verschwinden. Möglicherweise waren sie nur eine kurzlebige Spezies, Ausgeburten des hedonistischen Lebensstils der 1970 bis 1990 er Jahre. Man muss sich mal angesichts der heutigen Geschwindigkeit, mit der sich dank Twitter die Primeur News weltweit verbreiten, vorstellen, dass die ersten Notizen über den heute legendären Mouton 1945 erst ab 1953/54 erschienen sind. Vorher hat niemand von diesem Wein wirklich Notiz genommen. Als ich Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre bei Bessers bzw. Ullsteins Gourmet Journal und VIF als Redakteuer und später Ressortleiter und Chefredakteur arbeitete, war es zwar relativ einfach Restauranttester zu finden, aber Weinschreiber, die konkret über einen bestimmten Wein kompetent schreiben konnten, die waren sehr rar. Mit den ersten Weinzeitschriften und Weinführern setzte dann eine explosionsartige Vermehrung dieser Spezies an. Quasi über Nacht fing jeder, der Rot- von Weisswein unterscheiden konnte, an, über Wein zu reden und zu schreiben. Ich selbst habe mich 15 Jahre mit Wein trinkende, lesend und reisend beschäftigt, bevor ich es gewagt habe, zum ersten Mal etwas über Weine zu publizieren. Heute erleben wir das Entstehen einer dritten Generation der Weinpublizistik verbunden mit allen Geburtswehen. Weinverkostungen wurden ab den 1990er Jahren zu einem Gesellschaftsspiel, erst für ein paar gut betuchte Sammler und ihre Freunde und dann für Jedermann. Dann kam der Boom der Weinkurse, die Schwemme der Weinakademiker und heute – so scheint es – wird Weinschreiberei zu einer Art Breitensport. Wie gut oder schlecht das für die Weinwelt ist, sei mal dahingestellt. Es ist jedenfalls genauso Ausdruck unserer demokratischen Welt- und Werteordnung wie die Tatsache, dass Aldi und Co mehr Weine vermarkten als jede andere Handelsschiene. Demokratie ist gleich Fläche, Wein aber ist Hierarchie und somit eigentlich ein aristokratische Produkt.
Würtz-Wein: Worin sehen Sie die Chancen für die deutsche Weinwirtschaft im web 2.0?
Mario Scheuermann: Das ist sehr schwer abzuschätzen; denn niemand kann genau sagen wohin die Reise geht. Im Augenblick ist die Situation so, dass die deutsche Weinwirtschaft noch gar nicht so richtig im Web 1.0 angekommen ist. Sie verharrt noch in der Steinzeit des Internets. Andererseits beschäftigen sich nicht wenige schon mit den Möglichkeiten, die ein Web 3.0 mit semantischer Suche bieten könnte.
Würtz-Wein: Hat Ihrer Meinung nach die deutsche Weinwirtschaft diese Chancen erkannt und nutzt sie diese auch?
Mario Scheuermann: Ganz klar: NEIN! Sie verschläft sie im Augenblick.
Würtz-Wein: Vereinfacht ausgedrückt gibt es in der virtuellen Weinwelt zwei Lager: Die „Profis“ und die „Amateure“, wobei der Begriff „Amateur“ keineswegs eine Herabstufung ist. Durch den unmittelbaren und direkten Kontakt entstehen oftmals Reibungen. Insbesondere auch durch die oftmals leicht arrogante Haltung der „Profis“ gegenüber den „Amateuren“. Woran liegt das? Haben die „Profis“ Angst, ihre früher oft monopolistische Meinungshoheit zu verlieren?
Mario Scheuermann: Um ganz ehrlich zu sein sehe ich diese scharfe Trennlinie so nicht, auch wenn mir das einige Blogger immer unterstellen. Ich kenne Amateure – also Menschen, die sich aus Liebhaberei und nicht beruflich mit Wein beschäftigten – die haben von bestimmten Ländern, Regionen oder Sorten mehr Ahnung als viele Profis. Andererseits versteht nicht jeder Profi automatisch alles von Wein. Es gibt welche, die verstehen meiner Ansicht nach fast gar nichts davon. Diese Pseudo Profis sind – wenn überhaupt – das eigentliche Problem, vor allem dann, wenn sie den Guru markieren. Die Trennlinie, die hier angesprochen wird, heißt vielmehr gute und schlechte Verkoster. Aber auch diese Linie geht quer durch die Szene. Ich kenne Amateure, die ganz exzellente Verkoster sind, und solche, die es einfach nicht können, Dies gilt aber auch für die Profis. Das liegt daran, dass die körperliche Veranlagung, die sensorischen Fähigkeiten, sehr verschieden ausgeprägt sind. Natürlich schmeckt auch der etwas, der in Wahrheit wenig schmeckt. Und das ist für ihn subjektiv 100 Prozent. Wie es ist, wenn man Geruchs- und Geschmacksinne hat, die sagen wir mal zehnmal sensibler reagieren, kann der sich gar nicht vorstellen. Oder wenn gar jemand beim Riechen intensiv Farben erlebt oder Klänge. Für den, der das nicht kann, schwer vorstellbar.
Würtz-Wein: In der Web 2.0 Weinlandschaft ist zur Zeit viel Bewegung, nicht zuletzt durch den Niedergang der Printmedien. Es gibt zahlreiche blogs, Twitterer und Foren. Haben die alle eine Zukunft, gibt es für Sie so etwas wie ein Leitmedium im Netz?
Mario Scheuermann: Nicht wirklich. Das Weinweb 2.0 ist ein chaotisches Konglomerat und ich finde das im Prinzip auch gut so. Nur so werden kreative Kräfte freigesetzt. Bei den älteren Formen wie Online-Foren gibt es schon gewisse Hierarchien. Da ist sicher das Parker-Forum das Maß aller Dinge. Auch bei den Webseiten mit Nachrichten und den Email-Newsletter gibt es eine Reihe von viel zitierten Leitmedien. Aber alles andere ist erfreulicherweise im Fluss.
Würtz-Wein: Wie wird Ihrer Meinung nach in Zukunft die „Wein-im-web 2.0-Landschaft“ aussehen?
Mario Scheuermann: Wenn ich das wüsste, würde ich mich sofort daran setzen, es zu realisieren. Das hängt sehr von der Weiterentwicklung der diversen Kommunikations-Tools und Social Networks ab. Eine konkrete Prognose traue ich mir da nicht zu. Nur soviel: die Online-Medien werden die Print-Medien auf fast allen Ebenen ablösen.
Würtz-Wein: Sie prangern häufig den „Content-Klau“ an. Das heißt, bestimmte Inhalte werden, wohl ohne das Einverständnis der Urhebers, von anderen blogs übernommen. Sehen Sie das als konkretes Problem?
Mario Scheuermann: Das ist eine Unsitte, die sich im Internet breitgemacht hat, leider auch unter Bloggern. Ich finde das genauso grenzwertig wie das anonyme Publizieren im Internet. Man sollte korrekt zitieren oder verlinken und kompletten Content nur mit Erlaubnis und gegebenenfalls gegen Honorar nachdrucken. Ich rede nicht von irgendwelchen Agenturmeldungen, sondern von eigenständigen Reportagen und Recherchen. Und man sollte seinen Blog mit einem kompletten Impressum versehen.
Würtz-Wein: Was halten Sie von Blindproben?
Mario Scheuermann: Wenig vor allem dann nicht, wenn sie für alles und jedes herhalten müssen. Blind verkostet haben früher eigentlich nur Makler oder Kommissionäre z.B. Fassmuster oder Weine der gleichen Sorte aus einer Region, um sich einen Überblick zu verschaffen. Händler haben einen Wein aus ihrem Sortiment blind mit denen von Mitbewerbern verglichen. Das war sehr eng zweckgebunden und machte da natürlich Sinn. Heute finde ich das z.B. bei Jury-Verkostungen sinnvoll. Ansonsten bin ich ein Fan dessen, was ich eine akademische Verkostung nenne, eine Überprüfung des Weins mit allen Sinnen und da gehört nun mal auch die Optik dazu und das Recherchieren von Fakten vor Ort oder in der Literatur. Meine Serie mit Verkostungen älterer Bordeaux-Weine im Planet Bordeaux ist ein gutes Beispiel dafür, was ich meine. Dies verlangt natürlich nach einem hohen Maß an Ehrlichkeit gegenüber sich selbst.
Würtz-Wein: Ist es nötig Weine zu bepunkten? Was bringen diese Punkte dem Konsumenten?
Mario Scheuermann: Was Punkten den Konsumenten wirklich bringen, weiß ich nicht, aber es sind die Konsumenten, die uns mittlerweile fast alle gezwungen haben, das 100-Punkte-System zu übernehmen, weil sie vergleichbare Bewertungen haben wollen. Das verstehe ich einerseits und wenn man die einzelnen Verkoster und ihre individuelle Messlatte kennt, mag ich auch einen Sinn darin zu erkennen, aber meist kennt man diese Justierung nicht und dann wird’s problematisch. Ich kann z.B. die Noten von Kollegen wie Armin Diel und Peter Moser sehr gut einschätzen, auch die von Robert Parker oder René Gabriel. Manche andere Benotungen sind für mich dagegen eher rätselhaft.
Würtz-Wein: Wie stehen Sie zu der Tatsache, dass mittlerweile jeder ambitionierte Weintrinker, mit eigener Plattform im Netz, Weine bepunktet?
Mario Scheuerman: Ich halte das zumindest für problematisch; denn schon die Profi-Punkte sind oft nicht vergleichbar. Um nicht wieder falsch verstanden zu werden: ich halte sehr viel davon, wenn ambitionierte Weintrinker sich im Internet über Weine äußern, sie beschreiben, erzählen, wann und wo sie sie getrunken, was sie dazu gegessen haben, was sie über den Wein, seine Stilistik etc. denken. Aber Bepunktungen halte ich für problematisch, weil vielen die Maßstäbe fehlen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass man schon eine ganze Reihe von 100-Punkte-Weine getrunken haben muss und zwar, weiß und rot, süß und schäumend und möglichst mehrfach, um einen solchen Maßstab zu bekommen. Wenn im Hochsprung der Weltrekord bei 2.20 m liegt, muss ich halt da drüber springen. Darunter durchzulaufen gilt nicht.
Würtz-Wein: Wir haben in Deutschland drei mehr oder minder maßgebliche Weinführer. Den Gault Millau, wein-plus und den Eichelmann. Wie würden Sie diese drei Publikationen gewichten, insbesondere nach ihrem Nutzen für den Konsumenten?
Mario Scheuermann: Ohne den Kollegen zu nahe treten zu wollen: der GM ist ganz eindeutig der Platzhirsch. Man könnte auch sagen, GM ist die Regierung und die beiden anderen sitzen auf den Oppositionsbänken.
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